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Der Diemar Jung Zapfe-Blog

Die Customer Journey: keine Kaffeefahrt

Alle reden von der „Customer Journey“, besonders im Online-Marketing. Doch das Konzept der Kundenreise ist auch jenseits davon hilfreich. Wie man den Kaufentscheidungsprozess der Konsumenten besser versteht und erfolgreich beeinflusst, erklärt Dirk Engel, unabhängiger Marktforscher und Dozent.

Texter: Dirk Engel

Wer sich die Überschriften in der Marketing-Fachpresse und die Programme der einschlägigen Fachkongresse ansieht, kann den Eindruck bekommen, er befinde sich in der Tourismus-Branche: Denn einer der aktuellen Lieblingsbegriffe der Marketing- und Internet-Experten ist „Customer Journey“ oder auch „Consumer Journey“. Hinter diesen Schlagworten steht eine wichtige Erkenntnis: Menschen treffen ihre Kaufentscheidungen nicht in einem einmaligen, abgeschlossenen Akt, sondern durchlaufen viele einzelne Phasen, bis sie sich schließlich für ein Produkt entscheiden. Dies könnte man nun ganz einfach Kaufentscheidungsprozess nennen, was aber sehr technisch klingt. Die metaphorische Bezeichnung der Reise erscheint da irgendwie sympathischer. Und natürlich wird der Begriff auch nicht ins Deutsche übersetzt. Zu Recht: Consumer Journey hört sich natürlich besser an als „Verbraucher-Reise“ – bei letzterer denkt man hierzulande wohl eher an eine Kaffeefahrt, bei der gewiefte Seelenverkäufer unbedarfte Rentner mit dem Bus übers Land kutschieren, um ihnen überteuerte Heizdecken zu verkaufen.

Der Siegeszug der Customer Journey kam mit dem Online-Marketing und insbesondere mit dem E-Commerce. Zum ersten Mal war es möglich, anhand von elektronisch messbaren Daten den gesamten Kaufprozess abzubilden: vom Kontakt mit Werbe-Bannern, dem Eintippen von Suchwörtern bei Google, dem Abrufen von Produktinformationen auf einer Shopping-Seite bis hin zum tatsächlichen Kauf und eventuell auch noch darüber hinaus. Bleibt der Kunde treu? Kauft er weiter ein? Nutzt er den Service des Anbieters oder gibt er sogar eine Beurteilung der gekauften Ware ab? Die Analyse dieser Daten zeigt, wie Menschen das Internet nutzen, um ihre Käufe zu erledigen, und wo die kritischen Punkte sind, an denen ein Kauf scheitern kann – etwa beim umständlichen Registrierungsformular kurz vor dem Bezahlen. E-Commerce-Anbieter konnten mit diesen Daten ihre Angebote und Marketing-Maßnahmen optimieren, und Performance-Marketing-Agenturen versprechen ihren Kunden, Online-Werbung zielgenau an den Wegstationen der Customer Journey zu platzieren. Doch manchmal hat man den Eindruck, einige von ihnen verwechseln die Journey tatsächlich mit einer Kaffeefahrt: Wenn man den Weg des Konsumenten mit Werbung zupflastert, wird er am Ende schon kaufen. Ähnlich sehen es viele Online-Marketing-Leute: Sie glauben, das Sammeln und Analysieren von Transaktionsdaten im Internet mache die herkömmliche Marktforschung überflüssig.

Reise mit unbestimmtem Ziel

Wenn wir uns aktuelle Forschungsergebnisse zum Kaufentscheidungsprozess ansehen, lernen wir eine ganze Reihe wichtiger Lektionen. Zum Beispiel diese: Konsumentenreisen können an jeder Weggabelung eine unvorhergesehene Richtung nehmen und werden subtil von Emotionen, Wünschen und Befindlichkeiten der Reisenden beeinflusst. Es gibt nicht DIE eine Customer Journey, sondern eine unendliche Vielzahl individueller Reisen. Marketing kann diese Reisen nicht steuern, aber es kann manchmal den Stups in die richtige Richtung geben – vorausgesetzt, man kennt die Bedürfnisse der Kunden.

Daraus ergibt sich der wirkliche Wert der Reise-Metapher – nicht nur für Online-Verkäufer, sondern für alle Händler, Unternehmen, Marken und Medien: Wir müssen verstehen, wie Verbraucher ihre Entscheidungen treffen. Forschungsergebnisse zeigen, dass diese „Reise“ – der Kundenkaufprozess – immer komplexer geworden ist: Entscheidungsprozesse dauern länger, es werden mehr Geschäfte in Betracht gezogen, mehr Informationsquellen genutzt, mehr Menschen als Ratgeber und Mitentscheider. Jede Familie ist heute ein Buying Center, ähnlich denen in großen Unternehmen. Und durch das Social Web wird das Buying Center auch noch auf Freunde und Bekannte ausgedehnt, die dank Smartphone und Facebook jederzeit konsultierbar sind.

Die Motivation ist entscheidend

Eine weitere Erkenntnis: Es wird immer schwerer, dominante Muster zu erkennen. Jede Reise kann anders aussehen, der Einfluss von Marketing-Maßnahmen auf ihre Route schwankt von Konsument zu Konsument oder von Tag zu Tag. Um die richtigen Marketing- und Kommunikations-Maßnahmen zu ergreifen, darf man sich nicht nur auf das Sammeln von elektronischen Daten konzentrieren, sondern muss auch die Motivation der Verbraucher dahinter durchleuchten. Erst die Verbindung aus Web-Analytics oder Käuferdaten mit herkömmlicher Marktforschung und dem Aufspüren von verdeckten Motiven wird das Marketing verbessern: Dann wird die „Customer Journey“ weder eine Abzocke-Kaffeefahrt noch eine nimmer endende Odyssee, sondern eine normale Reise, bei der alle zufrieden am Ziel ankommen.

Noch gibt es kein allgemeingültiges Journey-Modell. In den einschlägigen und Unternehmenswebsites (seltener in Lehrbüchern) findet man unterschiedlichste Varianten, mal einfach, mal komplex. In der Forschung wird – für ganz unterschiedliche Aufgaben und Kunden – mit einer Vielzahl von branchen- und zielgruppenabhängigen Kaufentscheidungsprozess-Modellen gearbeitet. Doch lassen sich auf einer Meta-Ebene durchaus Gemeinsamkeiten feststellen, die wir zu folgendem Modell zusammengefasst haben. Wichtig ist dabei, dass die Abfolge nicht automatisch linear sein muss: In jeder Phase kann es zu einer Abkürzung, also dem Überspringen der weiteren Phasen, kommen. Ebenso ist das Zurückgehen in eine frühere Phase möglich. Und natürlich kann der ganze Prozess auch in jeder Phase abgebrochen werden.

Latenz-Phase (Latency)

In dieser ersten Phase besteht keine konkrete Kaufabsicht. Der Konsument hat also genau genommen seine Reise noch nicht begonnen. Trotzdem ist diese Phase entscheidend: Es werden Produkte genutzt, und es gibt – oft eher beiläufige – Kontakte mit der Marke, z. B. über Werbung oder durch die Beobachtung von Freunden, die die Marke bereits nutzen. In dieser Phase ist die Aufmerksamkeit meist gering, weshalb Marken hier unterschiedliche Techniken einsetzen müssen, um die Aufmerksamkeitsschwelle zu überschreiten. Marketing-Kommunikation hat hier die Aufgabe des Vorprägens: ein Marken-Image aufbauen, Kaufkriterien definieren oder – um die Reise-Metapher beizubehalten – das Fernweh anzuregen.

Explorations-Phase (Exploration)

Der Bedarf ist erkannt, jetzt geht es darum, sich einen Überblick zu verschaffen. Die Aufmerksamkeit steigt, Werbung hat eine höhere Chance, wahrgenommen und bewusst verarbeitet zu werden. Gleichzeitig wird aktiv gesucht, wobei die Suche in dieser Phase in die Breite geht. Das Angebot wird gescannt. Ziel dieser Etappe ist es, sich auf wenige mögliche Alternativen zu fokussieren.

Abwägungs-Phase (Consideration)

Nun werden die möglichen Alternativen genauer unter die Lupe genommen. Die Beschäftigung mit dem Produkt geht jetzt nicht mehr in die Breite, sondern in die Tiefe. Es werden zusätzliche Informationen beschafft und gegengecheckt. Das Etappenziel ist erreicht, wenn man sich auf eine der möglichen Alternativen festgelegt hat.

Kauf-Phase (Purchase)

Nun geht es darum, die Konditionen des Kaufs zu verhandeln. Beispielsweise kann man mit einem Autohändler über Preis, Sonderausstattung und Lieferzeit verhandeln oder einen Online-Preisvergleich bei verschiedenen Händlern durchführen, um das billigste Angebot herauszufinden. Der Kauf kann in dieser Phase immer noch scheitern, woraufhin man nach neuen (oder bereits bekannten) Alternativen sucht. Nicht selten führt die Reise hier wieder zurück in die Consideration-Etappe. Wenn aber doch gekauft wird, geht es zur nächsten Station.

Nachkauf-Phase (After Sales)

Die Aufmerksamkeit ist hier immer noch hoch, denn nun muss das Produkt halten, was es versprochen hat. Wie bei einer Ehe kommt nach der Phase des Verliebtseins, in der alles rosarot ist, der weniger glanzvolle Ehe-Alltag. Diese Phase haben Marketing-Experten heute wesentlich stärker im Blick als noch vor einigen Jahren. Der Grund dafür ist das Social Web. Denn heute berichten Konsumenten über ihre unmittelbaren Produkterfahrungen auch online – damit unterrichten sie nicht nur ihre Freunde und Bekannten, sondern hinterlassen auffindbare und dauerhafte Spuren (z. B. Produktbewertungen) im Internet, die wiederum als Informationsquelle für andere Konsumenten dienen, die sich jetzt oder später selbst auf die Reise, also auf den Weg zum Produktkauf, machen. Hieraus hat sich eine völlig neue Aufgabe für die Marketing-Kommunikation entwickelt – nämlich Kunden dazu zu bringen, über ihre positiven Erlebnisse in den sozialen Medien zu berichten. Irgendwann sinkt aber die Aufmerksamkeit wieder, die After-Sales-Phase geht in die nächste Latenz-Phase über.

Wer heute wirksames und effizientes Marketing machen möchte, muss die Perspektive des Kunden einnehmen. Ein Customer-Journey-Modell hilft dabei – es hilft, die verstreuten Erkenntnisse aus der Erfahrung und der Marktforschung in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Mit ihm kann man identifizieren, welche Botschaften und Informationen zu welchem Zeitpunkt wichtig sind, um den Kunden Orientierung zu bieten. Die relevanten Kanäle und Medien lassen sich differenziert nach ihren Stärken und Schwächen für die verschiedenen Reisestationen evaluieren. Dabei ist es egal, ob der Geschäftsprozess vollständig digitalisiert ist oder nicht, ob Sie Ihre Kunden direkt oder über den Handel erreichen, ob Sie an Endkonsumenten oder an Geschäftskunden verkaufen. Wichtig ist nur, dass Sie mehr Informationen über Ihre Kunden und deren Motive sammeln und diese in ein anschauliches Modell integrieren. Das wird Ihnen helfen, in die richtigen, relevanten Marketing-Maßnahmen zu investieren – sodass die Customer Journey für Ihre Kunden nicht zur nervenden Hard-Selling-Kaffeefahrt wird.

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